Ich hatte zu Ende meines Studium das Angebot zu mehreren (gut bezahlten) Doktorstellen. Außerdem praktizierte ich zu dieser Zeit Psychotherapie in einer Niederländischen Praxis (unter Supervision meines Mentors Prof. Jan Derksen). Schnell wurde mir allerdings klar, dass das Gesundheitssystem nicht zum Ziel hatte, Menschen wirklich zu heilen, sie in ihre eigene Kraft zu bringen oder sie dabei zu unterstützen, Ihr volles Potential zu entfalten. Vielmehr ging es darum, möglichst vielen Patienten zu helfen, soweit zu genesen, dass sie wieder „arbeitsfähig“ wurden – also dem System erneut als Ressourcen zu Verfügung standen.
Hierzu wurde sowohl Diagnostik als auch Therapieansätze stark standardisiert. Sobald also festgestellt ist, was mit Ihnen nicht stimmt (Diagnose), wird automatisch ein entsprechender, zumeist vorgeschriebener, Therapieansatz gewählt und ausgeführt (protokolläre Behandlung). Argumentiert wird mit wissenschaftlichen Studien, die auf Basis von Durchschnittswerten die Effektivität dieser Behandlungen belegen sollen.
Beschäftigt man sich genauer mit der Mathematik der Analysen, die in diesen Forschungen zumeist genutzt werden (GLM), so erkennt man schnell, dass deren Aussagekraft für den einzelnen Klienten stark beschränkt sind. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, das Familienministerium würde einen Leitfaden herausbringen für eine „Standardfamilie“ mit 1,3 Kindern. Diese Familie gibt es nicht. Entweder die Familie hat kein Kind, sie hat ein Kind oder mehrere Kinder – aber nicht 1,3 Kinder! Die Dynamiken einer Familie mit keinem Kind, einem Kinder oder mehreren Kindern sind aber völlig unterschiedlich.
Der gleiche Denkfehler wird auch in der Psychotherapie gemacht. Es gibt einige wenige Ausnahmen, z.B. die Behandlung von speziellen Phobien mit intensiver Exposure: Einen Tag lang Rolltreppe fahren heilt zumeist die spezifische Angst vor Rolltreppen. In den allermeisten Fällen ist es aber unmöglich, die Herausforderungen des komplexen Systems „Mensch“ mit standardisierten Ansätzen erfolgreich zu beeinflussen.